Vorbild: van der Vaart

WM-Tagebuch (neue Serie): Je näher die WM rückt, desto größer werden die moralischen Ansprüche an den Fußball

Wir brauchen den totalen Überwachungsstaat. Erst wenn Kameras jede Bewegung der Bürger live verfolgen und damit zu jeder Sekunde Beweismittel gegen sie liefern können, wird diese Welt wieder gut sein. Das ist die Logik, die im Moment im Fußball angewandt wird, wo ehrlich empörte Liebhaber des Spiels mal wieder das mangelnde Fairplay seiner Protagonisten beklagen.

Hintergrund ist, dass zuletzt mächtig geschauspielert wurde und einige Profis (Micoud, Wörns) nicht von Schiedsrichtern, aber von Kameras gar beim Ellbogencheck oder Hodenzwicken von Gegenspielern – also Mitmenschen – erwischt wurden. Ein Aufschrei geht durch Deutschland: Wegsperren!

Dieses Verhalten, diagnostiziert etwa die FAZ zornig, sei ein „Grundübel“, das an der „Wurzel“ gepackt werden müsse, und zwar nicht allein durch Totalüberwachung („Gut so!“), sondern auch durch totales „Umdenken“. Also: „Wer auf die linke Tour glaubt, Treffer gegen die Fairness landen zu müssen, sollte auch innerhalb seiner eigenen Mannschaft und Fans (…) mit Verachtung gestraft werden.“ Man muss sicherlich jede gesellschaftliche Bewegung unterstützen, die sich Utopien bewahrt hat. Es ist allerdings so, dass man in den armen Fußball traditionell ein bisschen viel reinprojiziert. Und je näher die WM rückt, desto höher werden die Ansprüche. Sicher ist es nicht originell, darauf hinzuweisen, dass der Fußball „ein Spiegelbild der Gesellschaft“ sei, wie es in solchen Fällen gern getan wird. Aber man wird sagen dürfen, dass die Degenerierung von Werten in der Gesellschaft nicht dem Fußball angelastet werden kann. Und man wird sagen dürfen, dass die Beschwörung von „Ethik“ und „Moral“ durch Oliver Bierhoff genauso viel wert sind wie seine Beschwörung von Bitburger Bier.

Rafael van der Vaart, der niederländische Qualitätsfußballer des Hamburger SV, hat in einem Fernsehinterview das Betrügen im Fußball als „professionelles Verhalten“ bezeichnet. Stimmt. Das macht ihn nur vordergründig unsympathisch. In Wahrheit ehrt es van der Vaart, dass er sich den verlogenen Schmu spart und die Öffentlichkeit nicht für dumm verkauft. Van der Vaart erfüllt damit ethisch und moralisch sogar Vorbildfunktion, weil er immerhin nur einmal betrügt – auf dem Fußballplatz. Und nicht doppelt wie all die anderen Scheinheiligen. Ernst wird es erst, wenn ein Bundesligaklub zumindest Kleinbetrug (zum Beispiel Schwalben, vorgetäuschte Tätlichkeiten des Gegners) offiziell ächtet und tatsächlich bleiben lässt. See you am Sankt-Nimmerleins-Tag.

PETER UNFRIED